Und die Moral von der Geschicht?

Blickt man heute auf die großen und kleinen Rollenspiele der letzten Jahre zurück, gibt es kaum eine Entwicklung, die sich so stark durchgesetzt hat, wie die moralische Entscheidung. In der Tat haben Moralsysteme das Videospiel so stark geprägt, dass sie heutzutage nahezu nicht mehr aus dem westlichen Rollenspiel wegzudenken sind.
Dies verwundert kaum, sollen doch die Grenzen des eigenen Seins mit denen der Spielfigur durch Interaktivität und Individualität verschmelzen. Ein Moralsystem scheint dafür der perfekte Ansatz zu sein. Dem Spieler soll die Möglichkeit gegeben werden selbst zu entscheiden, was es innerhalb der Spielwelt bedeutet, Mensch zu sein und Menschlichkeit zu zeigen. Die Konsequenzen der jeweiligen Handlung sollen darüber hinaus dazu anregen, das eigene Handeln zu hinterfragen.
Das Problem ist nur: Die Umsetzung ist in der Praxis meist so spannend, wie ein Kriminalroman, der dem Leser bereits im Vorwort Mörder, Opfer und Tathergang verrät.
Schaut man sich zum Beispiel ein Mass Effect von Bioware an, dann stellt man schnell fest, dass es in kritischen Situationen oft nur die offensichtliche Wahl zwischen der moralisch guten, blauen Antwort, und der bösen, roten Doctor Doom Edition gibt. Diese ist im Prinzip aber auch nur die gute Variante, nur dass Shepard den Satz mit einem gedachten „du Arsch“ beendet. Gibt es eine neutrale dritte Möglichkeit, dann könnte der Dialog auch meist folgendermaßen aussehen:
Shepard: „Ich entscheide später ob ich dich mag, OK?“
NPC: „Alles klar, ich warte.“
Werden Aktionen vom Spieler hinterfragt, greift hier das gleiche Prinzip, aber ohne neutrale Möglichkeit:
Shepard: „Klar hab ich richtig entschieden [, du Arsch].“
Denn als Spieler ist man bekanntlich der Held, und der Held hat immer Recht.
Der Lieblingsansatz von Bethesda Softworks bietet im Grunde nichts anderes, auch wenn die Entscheidung meist nicht im Dialog liegt, sondern im Handeln danach. Wenn eine Quest in Fallout 3 verlangt, sich eine Trinkwasseraufbereitungsanlage anzusehen, ist die moralisch vertretbare Wahl offensichtlich, die Anlage in Betrieb zu nehmen und nicht das Trinkwasser mit fragwürdigen Chemikalien noch mehr zu vergiften.
Als Spieler haben wir damit zwar einen gewissen Einfluss auf unser Wirken in der Spielwelt, so hängen zum Beispiel ganze Städte und Zivilisationen von unseren Entscheidungen ab, aber letztendlich wurde die Bewertung der eigenen Entscheidung nicht von uns vorgenommen, sondern von Designern und Schreibern, die uns auch noch liebevoll fragen, welchen Effekt wir denn gerne als nächstes auf die Spielwelt haben möchten.
Damit wird die komplexe Frage nach der Moral des Charakters im Endeffekt auf einen einzigen Moment reduziert. Denn sind wir ehrlich: Meist entscheiden wir uns bei der Charaktererstellung, ob wir eine gute oder böse Figur spielen wollen. Unser Handeln folgt aus diesem einen Moment, und die Konsequenzen dieser Entscheidungen formen die Welt nur auf eine Art und Weise, die dem Spieler bestätigt, was schon bekannt war: Dass die Spielfigur nun eben gut oder böse ist. Überrascht wird man hierbei selten.
Wirklich harte Konsequenzen für den Spieler sucht man also meist vergeblich. Egal ob man als Commander Shepard in Mass Effect die synthetischen Geth oder ihre Schöpfer, die Quarianer, rettet, am Ende wird man als Held gefeiert und stellt irgendwie Frieden in der Galaxie her. Die Frage ist also nicht, ob man die richtige Wahl getroffen hat – denn der Spieler hat ja immer recht – sondern welche Rasse man lieber mag.
Ähnlich verhält es sich in Fallout 3, wenn man sich entscheiden muss, die Atombombe in Megaton zu sprengen oder lieber zu entschärfen. Die wichtigsten NPCs sind je nach Ausgang der Situation einfach nur an verschiedenen Orten zu finden und der Spieler erhält entweder eine Wohnung in Megaton oder im Tenpenny Tower.
Man bekommt also einen Auftrag, über dessen Ausgang man nicht weiter nachdenkt, eine Belohnung, die irgendwie immer fast gleich ist, und noch einmal die Bestätigung, dass man eben gut oder böse ist. Wichtige NPCs werden an dieser Stelle das Wort „Böse“ übrigens nur selten in den Mund nehmen, denn der Spieler ist ja – noch immer – der Held. Und der hat immer recht. Ein wirklich empörter NPC wird den Spieler im schlimmsten Falle vermutlich mit Schweigen bestrafen. Zum Glück ist aber auch das kein Problem, denn dann holt man sich die Quests eben vom bösen Zwilling des NPCs.
Bevor nun der Eindruck entsteht, dass Moral-Systeme immer schlecht und überflüssig sind: Dies ist natürlich nicht der Fall. Sowohl Mass Effect als auch Fallout 3 sind großartige Spiele, in denen es viel zu entdecken gibt. Eine Spielwelt, die sich zwischen verschiedenen Extremen bewegen kann, erhöht in jedem Fall den Wiederspielwert und regt dazu an, noch mehr zu entdecken. Manchmal will man als Spieler einfach wissen, wie eine Galaxie ohne Quarianer ausschaut, oder ob die Wohnung im Hochhaus schöner ist als die auf dem Schrottplatz. Manchmal ist ein NPC auch einfach nur so nervtötend, sodass wir uns nach einer „du Arsch“ Option wirklich sehnen.
Dennoch soll ein Rollenspiel den Spieler in die Rolle des unwahrscheinlichen Helden versetzen, der an seinen Taten wächst. Wenn also ein Moral-System existiert, dann sollte der Spieler doch erwarten können, dass der Charakter nicht nur durch Level-Ups an Stärke und Verstand gewinnt, und ein Moral-System am Ende mehr darstellt, als nur eine bunte Abstufung im Charakter-Screen und anders platzierte NPCs. Dafür ist eine kritische Betrachtung der eigenen Handlungsweise durch den Spieler selbst jedoch unabdingbar. Solange wir als Spieler weiterhin nur bereits bewertete Aktionen präsentiert bekommen, und unabhängig von der Wahl für diese belohnt werden, ist eine solche kritische Betrachtung allerdings unmöglich.
Wie man es besser machen kann? Das zeigt From Software ausgerechnet mit ihren Souls-Titeln. Obwohl diese nicht einmal über ein traditionelles Moral-System verfügen, lassen die Entwickler dem Spieler immer wieder genug Freiraum – oder engen diesen gekonnt ein – um der Figur einen ganz eigenen Charakter zu geben.
Diese Geschichte erzählen wir allerdings erst später…